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Ist es also vielleicht sogar gut, schlecht im Multitasking zu sein?

ACHTUNG

Überflutung!

 „Nach [dem Lesen von] ein oder zwei Seiten [eines Buches] schweifen meine Gedanken ab. Ich werde unruhig, verliere den Faden und suche nach einer anderen Beschäftigung. Es kommt mir immer vor, als müsste ich mein eigensinniges Gehirn zum Text zurückzerren.“ Nicholas Carr

 

 

Mit dieser Empfindung scheint der Autor Nicholas Carr nicht alleine zu sein. Es passiert seit einiger Zeit tatsächlich das, was der Neurowissenschaftler Torkel Klingberg als das „Zusammentreffen des Steinzeitgehirns mit dem Informationszeitalter“ beschreibt. Das menschliche Gehirn hat sich in den vergangen 40.000 Jahren nicht erwähnenswert verändert, unser Sozialverhalten und unsere Gewohnheiten sind jedoch nicht mehr wiederzuerkennen.

So scheint unser Arbeitsgedächtnis nun in der Struktur der digitalen, komplett vernetzten Welt seinen Erzfeind gefunden zu haben, denn das Internet ist auf eine Weise aufgebaut, die es zum optimalen Werkzeug der Hirntransformation macht. „Im Hinblick auf die Veränderung unseres Denkens, könnte das Internet also – neben dem Alphabet und dem Zahlensystem – die mächtigste Einzeltechnologie sein, die jemals massenhaft in Gebrauch gekommen ist“, meint Carr.

INFORMATION OVERLOAD

Laut der ARD/ZDF-Studie Massenkommunikation verbringen die 14 bis 29-Jährigen über drei Stunden täglich im Internet. Während dieser Zeit werden ihre visuellen, akustischen und sensorischen Kortizes mit Reizen geradezu überflutet.

 

Zunächst einmal ist da das haptische Feedback, das Maus, Tastatur und Touchscreen als Reaktion auf die geübten Bewegungen ihrer Finger ausgeben. Diese Bewegungen sind meist Reaktionen auf das Geschehen auf dem Bildschirm oder die Signaltöne, die von dem jeweiligen Gerät ausgegeben werden. Das Geschehen auf dem Bildschirm verändert sich während wir surfen mit atemberaubender Geschwindigkeit.

 

Verschieden angeordnete Textblöcke, die mit Links gespickt sind, wechseln sich mit Bildern ab, die horizontal oder in interaktiven Slideshows präsentiert sind.

Zusätzlich zu solch einer Mischung aus Text und Bild werden gerne auch Videos eingebunden, die automatisch abgespielt werden, sobald man beim Scrollen auf ihrer Höhe angekommen ist.

Beim Betrachten dieses Videos können Sie am eigenen Körper erfahren, wie eine Anstrengung zur Informationsvermittlung katastrophal versagen kann. Trotz der völlig übertriebenen Art, wie der selbsternannte Philosoph Jason Silva hier versucht seine Begeisterung auf den Zuschauer zu übertragen, wird jegliche Information seines Monologs schonungslos von den überwältigenden Effekten, Bildern, Soundeffekten und der monumentalen Musik weggespült.

 

Versuchen Sie doch einmal im Vollbildmodus seinen Worten zu folgen. Es wird ihnen sehr wahrscheinlich nicht gelingen, da ihr Arbeitsgedächtnis hoffnungslos überbelastet wird.

 

 

WIR SIND BESSER - ABER NICHT GUT GENUG

“Es gibt glücklicherweise keine Studien, die darauf hindeuten, dass es unsere Fähigkeit zur Konzentration einschränkt, uns mental anspruchsvollen oder fordernden Situationen auszusetzen. In der Tat gibt es Einiges, das das Gegenteil vermuten lässt: Denn tatsächlich trainieren wir in Situationen, in denen wir an die Grenzen unserer Fähigkeiten stoßen, unser Gehirn am meisten.”, meint Torkel Klingberg und erklärt weiter, dass das Abnehmen der Konzentrationsfähigkeit  wahrscheinlich mit der Diskrepanz zwischen Anforderung und Aufnahmefähigkeit des Arbeitsgedächtnisses zusammenhängt.

 

Möglicherweise sind wir also heute zehn Prozent besser darin geworden, gleichzeitig zu telefonieren und Spam-Mails zu löschen, als noch vor drei Jahren. Gleichzeitig ist die Anzahl der Mails, die wir erhalten, aber um 200 Prozent gestiegen. Es ist also nicht so, dass unser Gehirn durch die gesteigerten Anforderungen nicht trainiert wird. Es ist nur nicht in der Lage, mit der exponentiellen Steigerung der Informationsmenge mitzuhalten, der wir täglich ausgesetzt sind.

DER RAUSCH DER PRODUKTIVITÄT

Ein sehr interessantes Phänomen in diesem Zusammenhang ist ein Effekt, der als Flow bezeichnet wird. Dieser Begriff beschreibt einen optimalen Geisteszustand, den man erlebt, wenn eine Aufgabe mit den eigenen Fähigkeiten perfekt übereinstimmt und man ganz in der gegenwärtigen Tätigkeit aufgeht. Dabei verschwindet das Gefühl für Selbst und Selbstbewusstsein. Ein Zustand extremer Konzentration wird erreicht, Zeit verliert an Bedeutung und die Aktivität an sich wird schon als Belohnung empfunden.

Neueste Studien haben gezeigt, dass während dieses Zustandes ein Teil des Gehirns, der präfrontale Kortex, heruntergefahren wird. Dieser Vorgang wird als temporäre Hypofrontalität bezeichnet. Die oben genannten “Nebenwirkungen” treten deshalb auf, weil im präfrontalen Kortex die höheren geistigen Funktionen beheimatet sind. So liegt hier der Sinn für Moral, Selbstwahrnehmung und Zeitgefühl. Zwar wird dieses Phänomen schon seit über 140 Jahren beobachtet, jedoch konnte erst mit jüngsten Fortschritten in der Neurowissenschaft ernsthaft mit seiner Erforschung begonnen werden.

 

Je mehr sich unser Geisteszustand von diesem Flow unterscheidet, desto anfälliger scheinen wir für Unkonzentriertheit zu sein. Ist eine gestellte Aufgabe zu einfach, ist im Arbeitsgedächtnis viel Platz für ablenkende Eindrücke. Ist die Aufgabe zu schwer, steigt der Stresslevel bis ins Unangenehme.

DIE SUCHT NACH STIMULATION

Trotzdem oder gerade deshalb scheinen wir in vielen Bereichen immer komplexere Situationen zu fordern. Klingberg beobachtet vor allem in der Unterhaltungsindustrie eine deutliche Tendenz zur Komplexität. Sowohl Computerspiele, als auch Filme und Fernsehserien seien in den vergangenen Jahren auffällig komplexer geworden. Die Frage “Was passiert am Schluss” habe sich zur Frage “Was passiert gerade” gewandelt. Der Zuschauer wird konstant in einem Zustand der geistigen Stimulation gehalten.

Diese Veränderung könnte man als ein weiteres Indiz sehen, dass unsere Gehirne in der Tat zur simultanen Reizaufnahme trainiert wurden. Wo früher ein simpler Handlungsstrang zur Anfüllung des Arbeitsgedächtnisses genügte, reicht heute eine Hand nicht mehr aus, um die parallelen Erzählstränge in anspruchsvollen Unterhaltungsformaten zu zählen. Diese simultane Reizaufnahme wird oft als Multitasking bezeichnet. Ein Verhalten, das sich auf viele Bereiche des Lebens ausgebreitet hat. In Gesprächssituationen, während alltäglichen Tätigkeiten, jedoch hauptsächlich im Umgang mit Medien.

Quellen

Carr, N.: Surfen im Seichten, Pantheon, München, 2013

Klingberg, T.: The Overflowing Brain (Kindle Edition), Kapitel 15, The Information Flood and Flow.