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ICH BIN ICH,

    MEHR DENN JE

Haben Sie es bis hierher geschafft, ist ihnen sehr wahrscheinlich nun bewusst: Das Internet hat unsere Art zu Denken in den wenigen Jahren seiner Existenz nachhaltig verändert und diese Transformation wird sich in Zukunft eher beschleunigen als verlangsamen. Und doch sind diese Veränderungen keinesfalls nur negativer Natur, sondern bergen enormes Potential zur Erleichterung unseres Lebens.

 

Bisher wandeln wir durch die Welt und füllen wo immer es möglich ist Informationen in unser Gehirn, in der Hoffnung, diese Informationen irgendwann einmal zu benötigen und uns dann an sie erinnern zu können. Doch was unterscheidet uns dabei von einem Messie, der immer mehr und mehr Dinge in sein Haus schleppt, weil er dem Wahn verfallen ist, alles irgendwann einmal zu benötigen? Einem Messie, der aufgrund der schieren Menge an Dingen nicht mehr in der Lage ist, das eigentlich Gesuchte zu finden. Wäre es für so jemanden nicht sehr viel sinnvoller, mit der gesamten Menschheit ein gemeinschaftliches Lager anzumieten, das mit allen denkbaren Dingen gefüllt, aber extrem gut geordnet ist? Alles, was in der Wohnung zurückbleiben müsste, wären Dinge von persönlichem Wert. Diese Dinge gingen nun nicht mehr in der enormen Menge an gegenwärtig unnötigem Ballast unter, sondern könnten prominent in eigenen Regalen präsentiert werden.

Dieses Prinzip, durch das Abladen von geistigem Ballast Platz für die großen Zusammenhänge zu machen, wurde bereits erfolgreich nach der Einführung des Taschenrechners in Schulen belegt. Da die Schüler sich nicht mehr mit Kopfrechnen abmühen mussten, konnten sie sich auf größere Theorien der Mathematik konzentrieren und so Zusammenhänge verstehen, für die anders in ihrem Arbeitsgedächtnis kein Platz gewesen wäre.

 

Carr widerspricht dem Einwand, die Angst vor der Verdummung durch das Internet sei ähnlich wie die Angst vor der Verdummung, die dieser Einführung des Taschenrechners vorausging. Er meint, der Taschenrechner sei im Gegensatz zum Internet ein sehr spezialisiertes Gerät - Das Internet jedoch sei eine Ablenkungsmaschine, die das Arbeitsgedächtnis überfüllt und die Bildung von Langzeiterinnerungen verhindert.

 

Dieser Vergleich ist jedoch nicht zu Ende gedacht. Carr sieht das Internet nur in seiner gegenwärtigen Form mit störendem Hypertext und ­Werbebannern. Was spricht aber dagegen, dass das Internet - genau wie der Taschenrechner - in Zukunft bei der Wissensbeschaffung als reines Werkzeug fungiert, um uns die stumpfe Aufgabe der Detailerinnerung abzunehmen und im Arbeitsgedächtnis Platz für die großen Zusammenhänge zu schaffen?

 

Das würde wahrscheinlich nicht nur generelles Verständnis fördern, sondern ironischerweise auch zugleich helfen, das aus dem Internet hinzugezogene Detailwissen im Langzeitgedächtnis zu verankern. So zeigt nämlich das Bäcker-Bäcker-­Paradoxon eindrucksvoll, dass Erinnerungen an Details sehr viel besser im Gedächtnis haften bleiben, wenn sie in einen großen Zusammenhang gebracht werden. Dieses Paradoxon besagt, dass wir uns eher merken, dass eine Person von Beruf Bäcker ist, als dass sie mit Nachnamen Bäcker heißt. Daraus schloss der Neurologe Gillian Cohen, dass Lernen besser funktioniert, wenn uns indirekt weitere Sekundärinformationen oder Assoziationen mit der eigentlichen Information geliefert werden. In diesem Beispiel wären solche Assoziationen eine Backstube, Mehlstaub, eine Bäckermütze, oder sogar der Geruch von frisch gebackenem Brot. Kommen uns solche größeren ­Zusammenhänge während des Lernprozesses in den Kopf, ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass wir die Information im Nachhinein korrekt abrufen können.

 

Würde man das Arbeitsgedächtnis beim Lernen also vom kognitiven Ballast der Detailerinnerung befreien, könnte es durchaus sein, dass der gesamte Lernprozess enorm optimiert wird. Diese Auslagerung von momentan unnötigem Wissen kann jedoch nur funktionieren, wenn sich die Benutzer dieser externen Wissensdatenbank vorher einen gewissen Grundstock an Wissen und Recherchekompetenz angeeignet haben. So erklärt Larry Sanger: „Falls man sich noch nie Daten gemerkt hat, wird es einem absolut nichts sagen, wenn man auf Wikipedia entdeckt, dass die Schlacht von Hastings 1066 stattfand. [...] In der Tat braucht man erst Wissen, um zu erkennen, welche Fragen man stellen muss.“ Doch nur weil Detailwissen wie Jahreszahlen ausgelagert wird, bedeutet das nicht, dass das Hirn dann generell eine absolut blanke Festplatte darstellt, die ständig wieder auf Null zurückgesetzt wird. Natürlich wird das Gehirn auch weiterhin durch die Interaktion mit Wissen Informationen im Langzeitgedächtnis abspeichern und aufgrund seiner Plastizität neue neuronale Verbindungen knüpfen. Bestimmt wird das nicht das exakte Datum der Schlacht von Hastings sein, jedoch ist es sehr wahrscheinlich, dass der Lernende nach dem ­Verarbeiten dieser Informationen die Fähigkeit zum generellen Einordnen der Schlacht von Hastings in den Lauf der Geschichte erworben hat.

 

Wenn sich solch ein System zur Gedächtniserweiterung tatsächlich durchsetzen sollte, würde auch eine Reformation des Schulsystems in ungekanntem Ausmaß nötig werden. Dabei müsste völlig neu entschieden werden, welches Wissen als fruchtbare Basis für einen nachhaltigen Umgang mit dem Wissensspeicher aufgebaut werden soll. Denn ganz sicher wird, wie Sanger feststellt, ein gewisses Fundament an Wissen benötigt und auch ein gehöriges Maß an dem, was man heute als Medienkompetenz bezeichnet. Also das Wissen und die Fähigkeit dafür zu sorgen, dass man selbst das Medium beherrscht und nicht umgekehrt.

 

Das momentan so moderne Prinzip des Lernen lernens wird sich dabei wahrscheinlich schnell zum Prinzip des Informationen sammelns wandeln, da dann auch das lebenslange Lernen bald von sofortigem ­Wissen abgelöst werden wird. Wie genau unsere Gesellschaft nach diesen Umwälzungen aussehen wird, kann wohl niemand vorhersagen. Sicher scheint nur, dass die Welt, die wir letztendlich verlassen, nicht mehr viel mit der Welt gemeinsam haben wird, in die wir hineingeboren wurden.

WAS WIR TUN SOLLTEN

Trotz der massiven Auswirkungen, die das auf unser Leben und unsere Gesellschaft haben wird, scheint diese Erkenntnis in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent. Wahrscheinlich jeder in der westlichen Welt spürt mehr oder weniger deutlich, wie sich seine Art zu Denken langsam verändert und man sich immer mehr auf digitale Assistenzsysteme wie Google Now, Siri oder auch nur die schlichte Onlinesuche verlässt. Wie oben dargestellt, muss das nicht zwangsläufig etwas Schlechtes oder gar den Untergang von Kultur und Wissen bedeuten. Ganz sicher ist jedoch, dass wir uns den Folgen unseres Umgangs mit dem Internet bewusst sein müssen.

 

Wir haben inzwischen die Mittel festzustellen, was sich in unserem Gehirn verändert und wir werden mit der Zeit auch immer mehr darüber erfahren. Nun ist es an uns dafür zu sorgen, dass uns diese Veränderungen nicht zum Nachteil gereichen. Wir müssen sicherstellen, dass wir auch weiterhin das Internet beherrschen und nicht schon die Kontrolle über unser Denken abgeben, bevor Maschinenintelligenz auch nur ansatzweise das Level der menschlichen Intelligenz erreicht hat.

 

Dem Designer wird in einer Welt, in der Wissensmanagement und Organisation von Information immer mehr Bedeutung zukommt, die Aufgabe zufallen User-Experience-Schnittstellen zu entwickeln, mit denen der massive Wissensspeicher des Internets durchsucht und genutzt werden kann. Da das Tätigkeitsfeld des Designers immer konzeptioneller und grundlegender wird, liegt bei ihm jedoch auch die große Verantwortung, stets das Wohl der Benutzer und nicht nur kommerzielle Interessen und kurzfristigen Erfolg im Sinn zu haben.

 

Technologie, die uns physisch immer näher kommt, bis sie schließlich direkt bis in unser Gehirn reicht, sollte niemals so leichtfertig und willkürlich behandelt werden wie zum Beispiel das Design einer Lampe. Bei der Gestaltung zukünftiger Informationstechnologie steht weit mehr auf dem Spiel als ein potenzieller Fashion-Fauxpas und dessen sollten wir uns als Designer stets bewusst sein.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Super! Sie haben die Website bis ganz zum Schluss durchgelesen und ihr Gehirn erfolgreich transformiert!

 

Im Kapitel Design können Sie sich nun noch über die Prinzipien zur Gestaltung der Seite informieren. Da steckt mehr drin als man denkt!

Quellen

Surgenor, P., u. a.: Pressing the right buttons: calculator use in schools and Junior Cycle mathematics, PDF, St. Patrick’s College, 2007, S. 34 f.

Cohen, G.: Why is it difficult to put names to faces?, In: British Journal of Psychology 81, 1990, S. 293

Sanger, L.:  Individual Knowledge in the Internet, In: Educause Review, März/April 2010, S. 17.