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Opfer, die sich lohnen

In einer Zeit wie dieser, in der technologischer Fortschritt so unglaublich schnell vonstattengeht, dass weder wir selbst, noch staatliche Regulatoren hinterher kommen, ist es wichtig, öfter einmal einen Schritt zurückzutreten und zu versuchen, einen ungetrübten, möglichst neutralen Blick auf unsere Gesellschaft zu werfen.

 

In den nächsten Jahrzehnten werden wir uns mit unvorstellbar drastischen, ­gesellschaftlichen Umwälzungen konfrontiert sehen, von denen viele von technologischem Fortschritt ausgelöst werden. Sowohl in der Nanotechnologie, als auch der Forschung an künstlicher Intelligenz oder dem Bereich der Life-Sciences ­deuten sich solch drastische Fortschritte an, dass wir unsere Gesellschaft in der Mitte ­dieses Jahrhunderts wohl nicht mehr wiedererkennen könnten, würde sie uns jetzt vor ­Augen geführt.

 

Doch je schneller diese Innovationen auf uns einprasseln, desto wichtiger ist es sich Gedanken zu machen, welchen Pfad des Wandels wir einschlagen wollen. Wir als Menschheit fahren wie mit einem Fahrrad durch einen Wald der Hochtechnologie. Bisher war unsere Geschwindigkeit sehr gemächlich und wir konnten allen Bäumen leicht ausweichen.

Und selbst die Bäume waren bisher doch eher Grashalme, die uns bei einem Zusammenstoß nicht weiter aufhielten. Doch nun werden wir mit exponentieller Beschleunigung immer schneller und die Bäume werden mehr und mehr zu einer tödlichen Gefahr. In diesem Wald fahren wir gerade mit geschlossenen Augen.

EINE FRAGE DES ÜBERLEBENS

Es mag hochgegriffen klingen, in einer Arbeit über den Einfluss des Internets auf unser Gehirn die Gefahr der Zerstörung der Menschheit anzudeuten. Allerdings beziehen sich die zurückliegenden Seiten sämtlich auf die Vergangenheit. Alles was dort beschrieben ist, ist längst geschehen. Im Umgang mit dem Internet sind wir bisher tatsächlich mit verbunden Augen vorgegangen und beginnen erst jetzt, 30 Jahre nach dessen breiter Einführung, zu begreifen, dass wir nach und nach zu anderen Menschen wurden. In der Zukunft werden wir uns solch naives Vorgehen nicht mehr leisten können. Je mächtiger die Technologien sind die wir entwickeln, desto dramatischer sind auch die Folgen, die durch deren Missbrauch entstehen können. Oder, wie es der Internettheoretiker Clay Shirky ausdrückt:

 

„Aufgrund dieser Veränderungen ist die Frage, die wir uns stellen müssen nicht, ob Opfer zu erbringen sein werden; Opfer sind im Rahmen von ernsthaftem Wandel unvermeidbar. Die Frage, die wir uns stellen sollten ist, ob sich das Opfer lohnt, oder – wichtiger – was wir tun können, um dafür zu sorgen, dass das Opfer sich lohnt. Und die eine Strategie, die vollkommen sicher nichts verbessert, ist, zu hoffen, dass wir irgendwie die Uhr zurückdrehen können. Das wird scheitern, während es weder die Vergangenheit wiederbringt noch die Zukunft verbessert.“

 

Eine ähnliche Meinung vertrittt auch der Autor Sam Anderson im NewYork Magazine: „Es ist zu spät um einfach zu einer ruhigeren Zeit zurückzukehren. Unsere Jobs hängen an Konnektivität. [...] Information regnet täglich schneller und dicker auf uns nieder und es gib einige nicht-schwachsinnigen Gründe dafür. Die Frage ist jetzt, wie wir uns erfolgreich daran anpassen können.“

 

Es ist deshalb wichtig, unsere wahrscheinliche Zukunft im Umgang mit Technologie im Bereich des Lernens und Wissens ein wenig tiefer zu beleuchten. Soll das Gehirn gegen den externen Speicher des Internets abgeschottet werden und wir uns bemühen, seine Integrität als individueller Wissensspeicher zu bewahren? Oder stellt eine Symbiose mit dem großen Ganzen des Internets die nächste Stufe der menschlichen Evolution dar, mit der wir uns von den lästigen Einschränkungen unseres organischen Körpers befreien können?

VON DER ERWEITERUNG DES GEISTES

„Man stelle sich eine zukünftige Gerätschaft für die individuelle Benutzung vor, welche eine Art mechanisiertes Notizbuch und Bücherei darstellt. Sie braucht einen Namen und, um wahllos einen zu auszusuchen, wird uns „Memex“ genügen. Ein Memex ist eine Gerätschaft, in welcher ein Individuum alle seine Bücher, Aufnahmen und Kommunikation abspeichert und welches mechanisiert ist, damit es mit übermäßiger Geschwindigkeit und Flexibilität zurate gezogen werden kann. Es ist eine vergrößerte, private Erweiterung seines Gedächtnisses.“

 

Dieses Zitat stammt von dem Technologie- und Computervisionär Vannevar Bush. Er gilt als einer der Begründer des militärisch-industriellen Komplexes in den USA und verfasste im Jahr 1945 für den Atlantic einen wegweisenden Aufsatz über die Zukunft der Technologie. Der darin beschriebene Memex (Memory Extender) – ein Gerät zur Erweiterung des Geistes – ist eine Maschine, die uns heute nur zu vertraut erscheint.

Die Idee, dass das menschliche Hirn durch externe Ressourcen erweitert werden kann, wurde im Laufe der Jahre von vielen Wissenschaftlern aufgegriffen und ­untersucht. Jedoch haftete ihr stets ein Hauch von Science-Fiction an. Nun, knapp 70 Jahre später, scheinen wir unauffällig in eine Zeit eingetreten zu sein, in welcher wir solch einen Memex nicht nur ständig mit uns herumtragen, sondern uns auch schon zu ­einem gewissen Teil blind auf ihn verlassen.

 

Schon entstehen ­wissenschaftliche Theorien, die die technischen Geräte, welche uns mit dem Internet verbinden, als Erweiterungen unseres Gehirns ansehen. So besagt eine These von Andy Clark und David Chalmers, dass „kognitive Prozesse [...] nicht (alle) im Kopf“ stattfinden, sondern sich bereits auf technische Hilfsmittel erstrecken. Jeglicher Prozess, der unser ­Gehirn durch die Auslagerung von kognitiven Vorgängen erweitert, sei demnach eine Erweiterung unseres kognitiven Raums über das Gehirn hinaus. Also könnte man auch unsere Smartphones und Computer direkt als Erweiterungen ­unseres ­Denkapparats betrachten.

DAS WISSEN IN DER GEMEINSCHAFT

Doch waren ähnliche Prinzipien schon vor der Computerära Gegenstand psychologischer Betrachtungen. Der Sozialpsychologe Daniel Wegner hat 1985 in seinem Konzept des transaktiven Gedächtnissystems beschrieben, wie Menschen in engen Beziehungen verschiedener Art durch die Kombination ihres individuellen Spezialwissens einen komplexeren und potenziell leistungsfähigeren Gedankenapparat formen, als die Individuen selbst je darstellen könnten. Jeder Bestandteil eines solchen Systems besitzt die Verantwortung, den Wissensstand auf seinem jeweiligen Spezialgebiet zu bewahren.

 

Das bedeutet also, dass eine Familie quasi solch ein Gedächtnissystem bildet, in welchem alle Mitglieder vom individuellen Wissen der Mutter und des Vaters in ihren Spezialgebieten profitieren.

 

Unsere Beziehung mit dem Internet ähnelt einem solchen transaktiven Gedächtnissystem sehr stark – mit dem einen Unterschied, dass in diesem speziellen System das Internet das gesamte Wissen bereit hält und der Benutzer von jeglicher Verantwortung, sich an irgendetwas dauerhaft zu erinnern, befreit ist. Die Benutzer werden so zu einem neuen Element des Gedächtnissystems, dessen einzige Funktion darin besteht, die bereit gestellten Informationen zu verarbeiten. Auf den ersten Blick scheint diese Entwicklung beängstigend. Sie wird die Art wie wir in Zukunft denken jedoch nicht zwangsläufig negativ beeinflussen, was später noch genauer ­dargelegt wird.

Doch die Erweiterung des Gehirns ist nicht alles.

Es wird noch drastischer!

Quellen

Maeda, N.: External Working Memory and the Amount of Distributed Cognition, In: Proceedings 34th Ann. Cognitive Science Society, 2012, S. 1954–1959.

Anderson, S.: In Defense of Distraction, In: NewYork Magazine, 17. Mai 2009.

Wilson, R.A.: Boundaries of the Mind, Cambridge University Press, 2004.

Chalmers, D., Clark, A., The extended mind, In: Analysis, Nr.1, 1998, S. 8.

Wegner, D. M., Giuliano, T., Hertel, P. T.: Cognitive Interdependence in Close Relationships, In: Compatible and Incompatible Relationships (New York, Springer 1985), S. 253–276.

Ward, A. F.: Supernormal: How the Internet Is Changing Our Memories and Our Minds, In: Psychological Inquiry, Nr. 24, 2013, S. 341-348.

Kurzweil, R.: Menschheit 2.0, Die Singularität naht, Lola Books, Berlin, 2013, S. 342-344.