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...wir wissen

Andere Forscher denken schon sehr viel weiter und sehen in der Entwicklung eines weltweiten Wissensspeichers einen wichtigen Schritt hin zu einem gerechteren Bildungssystem, in dem jeder Mensch mit den gleichen Chancen ausgestattet ist. „Wie alle anderen Institutionen wird auch die Bildung zu einem dezentralen System übergehen, in dem jeder Mensch gleichermaßen Zugang zu Wissen und Unterricht höchster Qualität hat. [...] Der ­Zugang zu Bildung wird nicht länger durch den Mangel an gut ausgebildeten Lehrkräften in den einzelnen Städten und Dörfern beschränkt sein“, erklärt der Futurist Ray Kurzweil.

 

Eine kritische Stimme gegenüber dem Konzept des kollektiven Weltwissens, kommt aus einer eher unerwarteten Richtung. In einem Aufsatz in der Zeitschrift Educational Review meldete sich 2010 einer der Gründer von Wikipedia besorgt zu Wort und schriebt, er habe „Angst, [...] dass wir [in Zukunft] anstatt einer kreativen Gesellschaft von freiheitlich erzogenen, kritischen Denkern eine Gesellschaft von Drohnen haben werden, entkulturiert durch Schwarmgehirne [wie Wikipedia], die online zusammenarbeiten können, jedoch größtenteils ahnungslos sind, was die Schriften und Verhaltensweisen angeht, die mit einem Studium des tief schürfenden und unabhängigen Denkens einhergehen. Wir werden gefesselt sein von den Vorurteilen unseres ‘digitalen Stammes,’ reif für die Manipulation durch denjenigen, der unseren Dialog am besten im Griff hat.“

 

Dieser These, dass die Kenntnis von alten, literarischen Klassikern zur Bildung von einem freien und ­tiefen Geist unerlässlich ist, widerspricht Clay Shirky jedoch vehement. Er gibt zu bedenken, dass ­Dinge, die wir heute als literarische Meisterwerke oder altehrwürdige, geradezu heilige Technologie betrachten, zum Zeitpunkt ihrer Entwicklung fast immer als etwas ­Ablehnungswürdiges betrachtet wurden.

 

„Die Druckerpresse opferte die ­monolithische, historische und elitäre Kultur Europas, indem sie das Vielfältige, Zeitgemäße und Vulgäre förderte. Diese Untergrundliteratur wurde die neue Hochkultur und die Herausforderung von heute kommt wiederum von der Möglichkeit zur breiteren Teilnahme sowohl am Konsum als auch an der Produktion von Medien.“

Dem Einwand des Wikipedia-Mitbegründers, dass uns ein ­Erinnern durch Internetrecherche zu hirnlosen Maschinen macht, möchte ich ­ausdrücklich widersprechen. Wenn wir durch Datenbrillen und Gehirn-Interfaces direkten Zugang zu vernetzten Informationsquellen haben, wo ist dann der Unterschied zwischen analoger Erinnerung und digitaler Recherche, außer dass Letztere vermutlich sehr viel präziser und umfassender ausfällt?

Ray Kurzweil, einer der weltweit führenden Futuristen, ist der festen Überzeugung, dass „ungefähr im Jahr 2045 Veränderungen so unglaublich schnell vonstattengehen [werden], dass wir nicht mehr in der Lage sein werden ihnen zu folgen, außer wir vergrößern unsere eigene Intelligenz, indem wir eins werden mit eben der intelligenten Technologie, die wir erschaffen.“ Diese Aussage stützt sich auf die Kerntheorie Kurzweils, dass sich die Geschwindigkeit technologischen Fortschritts exponentiell steigert und im Rahmen dessen „die Rechenkapazität nichtbiologischer Intelligenz [...] die Kapazität biologischer Intelligenz Mitte der 2040er weit übersteigen“ wird.

 

So kommt auch eine Forschergruppe um die Psychologin Martha Farah zu dem Schluss, dass „die Fähigkeit der Menschheit die Funktion des eigenen Gehirns zu verändern, den Lauf der Geschichte so machtvoll beeinflussen [könnte] wie die Entwicklung der Metallurgie in der Eisenzeit.”

 

Wie das genau vonstatten gehen könnte, beschreibt Kurzweil so: „Die wichtigste Funktion der Nanobots um 2030 wird darin bestehen, unseren Geist buchstäblich zu erweitern, indem sie biologische und nicht biologische Intelligenz verknüpfen. [...] Man kann nicht oft genug betonen, dass sich unser Denken gegen Ende der ersten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf überwiegend nichtbiologische Substrate verlagern wird. [...] Dadurch werden wir unsere Mustererkennungsfähigkeiten, unser Gedächtnis und unsere allgemeine Denkleistung drastisch verbessern können. Außerdem wird mit dieser Technik direkte drahtlose Kommunikation von Gehirn zu Gehirn möglich.“

DIE SORGEN DES GENIES

Selbst Stephen Hawking, der sich offen für extreme Vorsicht beim Umgang mit solcher Technologie ausgesprochen hat, hält ein geistiges Verschmelzen mit superintelligenten Maschinen für unumgänglich.

 

Bitte rufen Sie sich beim Weiterlesen ins Gedächtnis, dass dies die Aussagen eines der angesehensten Intellektuellen unserer Zeit und nicht die Hirngespinste eines Verschwörungstheoretikers sind.

 

So warnte er in einem Interview mit dem FOCUS-Magazin zuerst erneut vor den Gefahren durch eine Symbiose mit Maschinen, ergänzte aber, dass wir dennoch „diesen Weg einschlagen [sollten], wenn wir wollen, dass biologische den elektronischen Systemen überlegen bleiben. Anders als unser Intellekt verdoppeln Computer ihre Leistung alle 18 Monate. Daher ist die Gefahr real, dass sie Intelligenz entwickeln und die Welt übernehmen. Wir müssen also schnellstens Techniken entwickeln, die eine direkte Verbindung zwischen ­Gehirn und Computer ermöglichen, sodass die Kunsthirne zur menschlichen Intelligenz beitragen, anstatt sich gegen uns zu stellen.“

 

Wenn eine solch tiefe Verschmelzung von Mensch und Technologie tatsächlich stattfindet, wird dies ethische, moralische und philosophische Fragestellungen aufwerfen, wie wir sie uns heute nur schwer vorstellen können. Welche Rolle spielt der einzelne Mensch in einer Welt, in der jedes Gehirn mit einem unendlichen Wissensspeicher ­verbunden ist? Ab welchem Punkt der Entwicklung muss man anerkennen, dass eine Maschine menschlich denkt? Wenn die Neuronen im Gehirn eines Menschen Stück für Stück durch leistungsfähigere Nanobots ersetzt werden –  gibt es einen Punkt, an dem der Mensch, aufhört, zu existieren und sich stattdessen in eine Maschine verwandelt hat? Diese und unglaublich viel mehr grundsätzliche Fragen wird es zukünftig zu klären geben.

Wie sehen mögliche Antworten auf diese essentiellen Fragen aus?

Quellen

Kurzweil, R.: Menschheit 2.0, Die Singularität naht, Lola Books, Berlin, 2013.

Sanger, L.:  Individual Knowledge in the Internet, In: Educause Review, März/April 2010, S. 17.

Farah, M., u. a.: Neurocognitive Enhancement: What can we do, and what should we do?, In: Nature Reviews Neuroscience 5, Nr. 5, 2004, S. 421-425.